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„Wend dein Gesicht der Sonne zu und du lässt die Schatten hinter dir!”

Ein Bericht von der Tour de Sainte Gertrude in Nivelles 2011

Die Wallfahrt beginnt am frühen Morgen. Es ist noch dunkel. Der Platz vor der Stiftskirche in Nivelles ist mit Menschen gefüllt. Pferdeschnauben! Die Pferde vor dem Schreinwagen sind unruhig. Ein Pferd schert aus und zwingt die Wartenden zurückzuweichen.

Endlich ist es so weit. Der Priester am Stadtbrunnen erteilt den Pferdesegen und die Menschenmasse setzt sich langsam in Bewegung, dem Pferdewagen mit dem Schrein der hl. Gertrud folgend. Jeder wählt seinen Schritt, man geht nebeneinander und miteinander, man folgt dem Schrein, der im Licht der Straßenlaternen leuchtet und den Weg weist.

Hin und wieder gibt es Gelächter, meistens immer dann, wenn Pferdemist im Weg liegt oder man ihm nicht mehr ausweichen kann. Fahnen hängen an den Häusern. Aus den Fenstern schauen Neugierige dem Treiben unten auf der Straße zu. Es herrscht Aufbruchstimmung. Ein lateinischer Hymnus erklingt.

Doch dann Stocken! An der ersten Weggabelung spricht der Priester zu den Gläubigen. Als er geendet hat, werden die Engel von den vier Ecken des Schreinwagens abmontiert. Was hat das zu bedeuten? - Dann geht es weiter. Zunächst durch enge Straßen, durch einen Vorort mit modernen Einfamilienhäusern. Die Bewohner stehen vor der Haustür, grüßen die Vorbeiziehenden und bieten Erfrischungen an.

Als die Menschenschlange das offene Feld erreicht, geht die Sonne auf Ein fast wolkenloser Himmel! Wir ziehen dem Licht entgegen! Nebel liegt auf den Wiesen und Feldern! Eine mystische Atmosphäre! Unbeschreiblich!

An einer Straßenkreuzung kommt der Zug erneut ins Stocken. Was ist passiert? - Sanitäter! Blaulicht! - Eine Frau hat einen Schwächeanfall. - Doch nach wenigen Minuten geht es weiter.

Vor mir geht eine junge Familie. Mama und Papa haben die zwei kleinen Kinder in die Mitte genommen und führen sie an der Hand, ein drittes schläft im Tragegestell auf Papas Rücken. Einige ältere Menschen humpeln und haben Gehbeschwerden. Jugendliche überholen am Wegesrand. Größere Kinder rennen kreuz und quer. Eltern schieben Kinderwagen oder Buggies. Ein kleines Mädchen stürzt, die Mutter hilft ihm auf: kein Weinen — tröstende Worte der Mutter — der Weg geht weiter.

Wir überqueren einen frisch gepflügten Acker. Es geht querfeldein! Die Pferdeführer haben mit den Zugpferden vor dem Schreinwagen ihre Mühe. - Wenn es hier regnet, wie geht es dann weiter?

Hunger und Durst machen sich bei mir bemerkbar. Ich hatte beinahe verschlafen. Der Wecker hatte nicht geklingelt. Zum Glück hatte mich ein Pilgerfreund aus dem Bett geschmissen. Ich war in Schuhe und Kleider gesprungen, um die Stiftskirche noch pünktlich zu erreichen. Doch nun knurrt der Magen.

Hunde laufen mit ihren Herrchen vorbei. Einer hinter mir schnappt nach meinem Pilgerstock und wird von seinem Herrchen zurechtgewiesen.

Nach zwei Stunden ist die Frühstückswiese erreicht. Endlich! Am Erfrischungsstand erwische ich ein Käsebrötchen. Reicht das bei meinem Hunger? Vielleicht bleiben gleich noch welche übrig. —

Priester bedienen die Pilger am Stand. Eine nette Geste! - Ich bitte um etwas zu trinken. Man reicht mir eine Bierflasche. Bier am frühen Morgen? Ich überwinde mich. Es geht. Ich trinke noch eine.

Während des Frühstücks spreche ich mit Mitpilgern, die ich am Abend zuvor kennengelernt habe: mit einer Buchautorin aus Stade und einem Künstler, dessen Wiener Freund aus Leeuwen angereist war, um an der Tour teilzunehmen. Der Künstler wirbt für seine modernen Lithographien, die die hl. Gertrud zeigen. Ich bin interessiert.

Ich schaue mir die Leute auf der Frühstückswiese etwas genauer an. Am Schreinwagen machen Pilgergruppen ihre Erinnerungsfotos. Bei einer Pilgergruppe aus Bonn steht ein Mann mit einer Fernsehkamera in der Schulterhalterung und stöhnt: „Ich habe das Gelatsche satt!"

Doch die Tour geht weiter. Ich ziehe jetzt meinen Anorak aus und hole mir meine Sonnenbrille aus dem Rucksack! Die Sonne strahlt! Ein Wahnsinnswetter — Hochsommer im Oktober — mit einem strahlend blauen Himmel!

Viele Pilger sind dem Schrein vorausgeeilt, um sich dann an einem Erfrischungsstand überholen zu lassen. — Ich wandere allein. Ich möchte die Atmosphäre auf mich wirken lassen. Ich möchte im Moment nicht abgelenkt werden. Ich fühle Dankbarkeit, diesen Tag zu erleben.

Der Pilgerzug macht Halt vor einer Vorortkirche. Ein Priester spricht zu den Gläubigen. Ich verstehe nur Bruchstücke seiner französischen Predigt und nutze die Gelegenheit, mir den Figurenschmuck an dem mittelalterlichen Schreinwagen anzuschauen. Die Pferdeführer stehen bei ihren Kaltblütlern. Sechs Pferde ziehen den Wagen, trotzdem war es für sie bergan eine gewaltige Kraftanstrengung. Ihre Rücken dampfen, Schweiß tropft auf die Erde.

Nun eile auch ich dem Wagen voraus. Die Sonne brennt. Wir gehen der Sonne entgegen!

Der nächste Halt: ein Bauernhof In einer Scheune werden die Priester von Pilgern bewirtet. Der Innenhof ist menschengefüllt. Ein Eiswagen! Das Dixi-Klo kostet 30 c. — Es ist schwierig, hier durchzukommen. Ich bleibe nicht lange. Mich treibt es auf den Weg.

Eine Schlange von Pilgern schiebt sich eine grüne Anhöhe hinauf. Ein malerischer Anblick!

Wir passieren einen weiteren Bauernhof und gehen durch den Innenhof Hier hat man runde Tische aufgestellt. Man steht in feiner Kleidung herum, schaut uns Pilgern zu und prostet mit Sektgläsern.

Bald erreichen wir die Nationalstraße, die wieder in das Zentrum von Nivelles zurückführt. Eine Spur ist von der Polizei abgetrennt. Wir gehen gehen einige Kilometer über Asphalt.

Einige Mitpilger benutzen lieber den weichen Rasenstreifen neben der Fahrbahn. Entgegenkommende Autos auf der anderen Straßenseite hupen. Die Autos auf der Überholspur fahren langsam, die Insassen gucken auf den Schrein. Polizeiautos überholen uns und bremsen die nachfolgenden Autos in ihrer Geschwindigkeit.

Der Weg wechselt in einen schattigen Feldweg. Welch eine Erholung! Aber dann geht es wieder zurück auf die Asphaltstraße. Es wird heiß. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn.

Der Pilgerzug nähert sich dem bewohnten Bezirk von Nivelles, die ersten Stadthäuser tauchen auf Einige Pilger scheren aus und nehmen den direkten Weg ins Stadtzentrum. Für mich ist es auch bald so weit.

Bald ist die Ausfallstraße, die zu meinem Hotel führt, erreicht. Noch zehn Minuten und ich stehe unter der Dusche!

Ein Gefühl der Zufriedenheit und Dankbarkeit überkommt mich.

Wattenscheid, 3. Oktober 2011
Heinz-Werner Kessler